04:30 Uhr – „Thomas, ich werde von einem Tier verfolgt!“

Mai 2023

Ich starte in 2023 wieder zum 24-Stunden-MTB-Rennen am Alfsee bei
Rieste. Wie üblich war ich top vorbereitet: hoch motiviert,
ausgeschlafen, in starkem Trainingszustand, mit vollen
Kohlenhydratspeichern, sauber gepackter Tasche und perfektem Setup am Rad.
Ach nee, das waren die anderen.

Ich war der, der es mal wieder nicht geschafft hat, vorher vernünftig zu
essen. Ne Asia-Instant-Nudelsuppe und nen Schokoriegel haben ja auch
Kohlenhydrate, Fette und Salz. Optimale Sportlernahrung also.

Auf dem Rad war ich auch seit vier Wochen nicht mehr. Gab ja immer was
wichtigeres, zum Beispiel mit Thomas über völlig veraltete Wehrtechnik
fachsimpeln.

Ausschlafen wird auch überbewertet, daher starte ich um 21:30 Uhr mit
meiner ersten Runde, bin da aber schon 17 Stunden auf den Beinen.
Vorher muss ich allerdings in meiner Tasche meine Klamotten finden. Das
Sortiersystem darin habe ich „Primark-Sommerschlussverkauf-Grabbeltisch“
getauft. Ich finde die Radhose neben den Käsebroten, die Batterien für
die Beleuchtung haben sich im Schlafsack versteckt und die dreckigen
Schuhsohlen haben sich innen an den Helm geschmiegt. Immerhin habe ich
genau so viele linke wie rechte Schuhe mit.

Das ist mir bei den Handschuhen nicht immer gelungen.

Am Rad befindet sich meine Geheimwaffe: der Lenker ist vollständig mit
Rennradlenkerband in Kunstlederimitat-Optik eingehüllt. Goodbye müde
Hände, hier ist Komfort an Bord. Egal, wo ich hingreife empfängt mich
weiche, warme, gepolsterte Premiumhaptik.

Irgendwann in der Mitte des Rennens stelle ich allerdings zu meiner
inneren Abscheu fest, dass ich mich eigentlich immer auf den
Ausgleichsbehältern der CNC-gefrästen Hope-Bremshebel abstütze. Mein
Lenkerband geht genauso unbenutzt aus dem Rennen, wie es vor 16 Wochen
an meinem Lenker gestartet ist.

Ich fahre die erste Runde bei ausklingendem Tageslicht, nachdem Thomas
und ich uns kurz noch Racesupport der Firma Verpoorten gegönnt haben. In
der Wechselzone finde ich eigentlich gerade viel spannender, was die
Landjugendhilfssuppenküche gerade aus ihren großen Töpfen ausschenkt,
aber Thomas ist schon wieder im Modus. Also geht es dann auch mal in
meine erste Runde.

Wir verstehen uns blind. Also eigentlich taub. Thomas nennt keine
Hindernisse, ich frage nicht danach. Ist ja eh alles wie immer. Also
gurke ich wie immer vor die ersten drei Bäume und bleibe in den ersten
Anstiegen stecken, weil ich wie immer zu dicht auffahre. Der kleine
Finger der linken Hand hat derweil zuverlässig als Prallschutz zwischen
Eiche und Aluminium fungiert, es werden Flur- und Materialschäden
zuverlässig verhindert.
Meine Sommer-Straßen-Sneaker sind schön luftig und der Temperatur
angemessen, zusätzliche Klimatisierung wird vom einbrechenden Sand an
den Anstiegen zwischen Socken und Schuh eingebracht. Kleine Steinchen
massieren unterdessen die Fußsohlen und der Hinterraddämpfer nimmt die
Schläge aus dem Boden und den Punch aus den Beinen. Das Fahrwerksetup
„alte-WG-Couch“ geht voll auf.

Und während Thomas und ich gedankenverwaschen nach dem
Kartoffelackerabschnitt die wunderschöne Deichbepflasterung unter
unseren Reifen bewundern, fällt ein Stück Rehwild im Knall des letzten
Büchsenlichtes und haucht sein stolzes Leben in das lange Gras der
norddeutschen Alm.

Im Formationsflug durchschneiden wir die letzten Meter der ersten Runde.
Die Frage einer zweiten Runde beantworte ich mit einem Gesichtsausdruck,
der eines Regenwurms würdig ist, von dem man verlangt, mit Messer und
Gabel zu essen und sich gerade hinzusetzen.

Wir fahren ins Lager. Eddy und Koni sind noch draußen, kommen aber bald
nach. Nico, unser Teammechaniker zaubert Kaffee (wieso schmeckt der
eigentlich immer besser, wenn er den macht?). Ich lasse mich nach
intensiven zwölf Kilometern in die wohlige Bequemlichkeit aus Cordura
und Leichtmetall unserer Bestuhlung sinken.

Wir fahren in die Dunkelheit. Die meisten Teilnehmenden wollen nachts
auf jeden Fall richtig Runden sammeln. Die meisten sammeln allerdings
dann doch ´ne Runde Schlaf. Die Anzahl der Räder auf der Strecke
schmilzt zusammen, wie das Calippo im Schwimmbad.

ierzig oder fünfzig Irrlichter umkreisen in den frühen Stunden zusammen
mit ein paar Mücken die zwei Schwäne auf der schwarzen Wasserfläche.
Vor mir stampft Thomas in seinem Schiffsdieselmodus hoch und runter,
rechts und links. Es kommt ein Anstieg, ich fahre zu dicht auf. Ich
kippe nach links. Ich steige ab und schiebe. Wir sind ja nicht doof.
Sondern faul. Auf der Kuppe trete ich wieder an. Thomas ist sechs Meter
vor mir. Dunkelheit hüllt uns ein. Chinesische Dioden emittieren aus
Leichtmetallgehäusen Lichtpartikel in chlorophyll-geprägte
Alfseedschungeligkeit.

An Thomas rechter Schulter drängt sich ein kokosnussgroßes, fliegendes,
schnarrendes Unheil vorbei und rastet mit der Eleganz eines
herabfallenden Faultiers in meinem Gesicht ein. Ich erschrecke mich. Das
Ding aus dem Dschungel erschreckt sich.

Ich wähle Flucht. Das Biest wählt Angriff. Ich denke über totstellen
nach, da versucht die Ungeheuerlichkeit schon, genau diesen Zustand bei
mir auszulösen. Ich untermale meinen Fluchtentschluss mit gesteigerter
Muskelkontraktion und richte den flehenden Ausspruch an den mir im
Fluchtweg dieselnden Thomas: „Ich werde von einem Tier verfolgt!“.
Thomas Appellohr ist seit geraumer Zeit verstopft. Auf der Sachebene
zieht er aus meinem verzweifelten Anruf, hinter mir ist ein Tier. Er
überlegt kurz. Sein Gehirn rutsch dabei kurz aus, stolpert, und kommt zu
dem Entschluss, hinter mir sei ein Bär. Oder ein Wolf.

Und während er über den Unsinn seines eigenen Gedankens sinniert, bohrt
die fliegende Apokalypse hinter mir ihre Reißzähne in meine Wade. Dabei
lacht die in der Nahrungsordnung offensichtlich mehrere Stufen über mir
stehende Kreation dreckig, wünscht mir noch ein schönes Rennen und lässt
auch meine Mitstreiter nett grüßen. Bis zur nächsten Runde, ihr Opfer!

Die Dunkelheit weicht erstem Licht. Der Hunger weicht einem Milchreis.
Die Müdigkeit weicht einem Kaffee. Fahrradfahren ist schön. Sitzen aber
auch. Deswegen geht es in die Heimeligkeit unserer Höhle. Am Lagerfeuer
teilen wir unsere Geschichten. Die Helden sind immer wir. Andere sähen
das anders. Aber die sind ja nicht da. Und die haben auch kein Anrecht
auf eine Ahnung.

Ich denke kurz nach.

Es gelingt mir aber nicht.

Also lasse ich das sein und nehme nur auf, was mir meine Rezeptoren aus
dem Angebot meiner Umwelt bieten.

Ich stoffwechsle so vor mich hin und gleich des Apfels, der Newton zur
Erkenntnis der Schwerkraft brachte, fällt meine Trinkflasche auf meine
Schuhe. Und während also das mit Mineralien und Nährstoffen versetzte
Wasser durch das Rauhleder und Polyester meiner Schuhe und schließlich
auch durch die gewebte Feinheit meiner Socken an meine Haut sickert,
küsst mich die Erkenntnis:
Alfsee ist magisch.

Warum kann ich nicht sagen. Ich denke wieder nach.

Gleiches Ergebnis wie vorher.

Nochmal ohne Verstand.

Das gelingt besser.

Ein paar gute Kumpels. Eine Herausforderung. Nur Einzelstarter, jeder
für sich. Dennoch niemand allein. Kein konkretes Ziel. Nicht nur so
kümmerlich weit, wie andere sagen. Sondern so weit, wie es das strengste
Kampfgericht auf dem Platz bestimmt: das eigene Ego. Und um uns herum
nur Leute, die den gleichen Kampf ausfechten oder dabei nach Kräften
helfen.

Dabei Yvonne, die unermüdliche Antreiberin mit der akustischen Präsenz
eines Sommergewitters.

Nico, der Baristaschrauber mit einer Hingabe, Ruhe und Präzision, die
den Dalai Lama wie ein unkonzentriertes Quengelkind wirken lassen.

Eddy, der stoisch Runde um Runde in den Boden tritt, obwohl die
Muskulatur schon nach einhundert Kilometern schrie: lass das. Er macht
dann zweihundert.

Koni, der sein zweites Einzelrennen fährt und einfach ruhig sein Ding
macht. Und dabei nach Kräften von Thomas und Eddy genervt wird mit
herausragenden Tipps, wie es ihm noch schneller noch schlechter gehen
könnte, wenn er doch nur endlich…

Und ich. Zu spät. Müde. Falsch gegessen. Unfit. Eigentlich nur fürs
Buffet angereist.

Geil.

Nächstes Jahr wieder. Also vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Inmitten der Unzulänglichkeiten mache ich nach langer Zeit
schlussendlich meinen Frieden mit diesem Rennen. Die Runden sind mir
egal. Die Uhr ist mir egal.

Ich verbringe einfach eine gute Zeit mit guten Menschen. Ich habe Spaß.

Und so einfach kriegt man das nur am Alfsee.

Come on, do the locomotion

the essentials

kitsch as kitsch can

Ohne Kaffee geht es nicht

Wer braucht schon Schlaf ...

Drei Herren vom Alfsee

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