Nicolai ION GPI Testride

September 2015

Es ist Samstag und ich sitze mit neun anderen Jungs im Sauerland in der Sonne. Die Tour mit dem gemieteten Guide hat uns leider etwas enttäuscht. Zwar sind wir gut platt, aber Höhenmeter auf Wald- und Forstwegen reichen irgendwie nicht zum Glück.
Sonntag ist mein letzter Tag Urlaub und ich befürchte schon, diese schale Gefühl von Samstag wieder mit zur Arbeit zu nehmen. Gefrustet schaue ich bei Whatsapp nach, was sonst so anliegt. Ah, siehe da, Thomas hat Bilder von der Eurobike geschickt. Klar, mal wieder ein Nicolai.
Hm, keine Kette, Fully, Getriebe und ein so flacher Lenkwinkel, das andere Räder den nur mit Rahmenbruch schaffen. Das schreit doch nach ION GPI…die Augen werden weiter, das Bild wird gezoomt. Warum steht Thomas´ Werkbank im Hintergrund? Meine erste, eigentlich als halber Scherz gemeinte Antwort: „Aaalter, das steht ja bei dir! Setz Kaffee auf, ich setzt mich JETZT in den Wagen und komme nach Ratingen!“
Die Antwort dauert nur zwei Minuten. „Morgen um Elf geht´s los mit Daniel Jahn. Das ist die Gelegenheit.“ Ich stutze und grüble. Nach den beiden Tagen im Sauerland nur mit Höhenmetern und Waldautobahn ganz ohne Wurzeln, Steine, Drops oder anderen Spielereien lechze ich nach was verspieltem. Andererseits bin ich etwas angeschlagen und derzeit nicht wirklich fit. Ich will ja nicht hinterher hängen.
Sonntagmorgen. Ich sitze im Auto auf dem Weg nach Ratingen. Klar hat der innere Schweinehund verloren. Gegen die Neugier, das ION GPI in action zu erleben hat so ein Haustier keine Chance. Thomas begrüßt mich mit Kaffee, kurze Zeit später kommt Ralf Schmedding aus dem BikeBauer-Team als Überraschung auch zum Chef nach Ratingen. Das Bike wird bestaunt, es gibt ne Testrunde in der Halle und auf dem Bürgersteig. Kurze Zeit später trudelt Daniel Jahn ein.
Rein in die Klamotten, Camelbags voll, Kamera eingepackt und ab geht die Post in Richtung Wald. Die Sonne brennt, erster Schweiß will aus dem Körper und versucht zu kühlen. Thomas kennt da „so eine Stelle, da wollte ich immer mal…“, also ein total zugewucherter Pfad. Antritt, Kicker, zwei Wellen und eine Kurve, die immer enger wird. „Geil“ denke ich mir, „endlich mal normale Leute“.
Das GPI fühlt sich pudelwohl, die Fahrer auch. Es wird geflachst und gescherzt. Und gefahren.
Ralf und Daniel zeigen was sie können und bringen das laaange GPI sauber durch den improvisierten Trail. Daniel zieht mit einem Tailwhip Thomas fasst die Kamera aus der Hand.
Kurze Zeit später geht Daniel verschmitz mit nem Blumenstrauss im Gesicht in den Wheelie. Zwar mag das GPI sowas mit seinen 1,30m Radstand nicht so gerne, aber wenn Daniel nach nem Wheelie fragt, lässt es sich nicht lange bitten.
Es ist warm, die Antritte treiben den Schweiß auf die Stirn und es wird Zeit für ne Abkühlung. Es geht zu meiner Lieblingsstelle. Ein natürlicher Drop am Wegesrand, eine kleine Kuhle aus der man schön den Schwung mitnehmen kann, danach eine kleine Welle als Gegenanstieg mit einer Kickerwurzel, eine rechts-links-Kombination durch die Bäume, eine verschüttete Baumwurzel, die in ein flaches Schlammloch mündet welches wiederum zu einem umgestürzten Baum führt. Danach weiter über einen kleinen Anlieger quer zu einer alten Trecker-Fahrspur mit Doppelrinne, die schon manchen in den Dreck geschickt hat.
Das Beste daran: wiederum ein Rundkurs. Das Allerbeste: direkt neben der Spur plätschert verlockend der Bach mit seinem Kies- und Sandbett.
Daniel hatte hier bereits mal ausversehen den Drop ignoriert, sprang dann zu weit links und wurde mit ungläubigen Blicken und nassen Klamotten belohnt. Heute stellt sich die Fage nach der richtigen Line nicht. Keine Kette? Nix zu fetten oder ölen? Es quietscht nichts, wenn das Rad nass wird? Das GPI will ins Wasser! Nacheinander werden neue Linien gefahren und keiner scheint mehr ernsthaft zu versuchen, trockenen Fußes über den Bach zu kommen. Allerdings kommt man von gegenüber liegenden Ufer nicht wirklich flowig wieder zurück. Daniel und Ralf werden beim BikeBauer kurzerhand zu Bob dem Baumeister und bauen eine Behelfsbrücke aus einem halben Stamm. Ich denke noch: „die flache Seite nach oben wäre besser gewesen, vor allem würde der herausstehende Ast nicht so stören“, da setz Daniel bereits an und liefert mit dem GPI eine Trial-Einlage vom feinsten. Ralf ist beeindruckt, Thomas und ich gucken uns nur mit offenem Mund an. Mir schießt durch den Kopf, dass man Daniel wahrscheinlich auch eine Seilbrücke aus Zahnseide bauen kann und er fährt sie.
Zwischendurch kommen immer wieder mal Hunde mit ihren Herrchen vorbei. Die Vierbeiner scheinen den Viergelenker auch zu mögen und folgen immer wieder ins kühle Nass. Dass das Rad so schön geräuschlos läuft, obwohl es ständig Tauchbäder nimmt und Wurzelfelder frisst freut halt nicht nur den Fahrer.
Insbesondere beim Springen und bei Wurzelfeldern fällt mir zunächst gar nicht auf, wie ruhig das Rad eigentlich ist. Bei kurzen Kickern merkt man dann aber doch nochmal den langen Radstand. Der Bock verbringt mit seinem Hinterrad insgesamt mehr Zeit auf Rampen und Kickern, als man es sonst von Nicolais gewöhnt ist. Und auch wenn es weder Ralf noch Daniel so aussehen lassen: dem Heck muss schon ein wenig zugeredet werden, damit es sich aus seiner Spur zum Whip bewegt oder sich das Hinterrad umsetzen lässt. Ich denke aber, wie alles an dem Bike ist auch dieser Umstand nur Gewöhnung.
Wir folgen dem Bach und hier kommt dem Fahrer der lange Radstand wieder zu Gute. Die hässliche Stelle mit der Doppelrinne wird vom GPI souverän genommen. Die Reifen packen und den Punkt, bei dem Vorder- und Hinterrad in ihrer Mulde am Boden verschwinden, scheint es beim GPI nicht zu geben. Wiederum vermittelt das Rad das Gefühl: „Das geht doch noch schneller, oder?“. Ich wechsle wieder auf das alte ION 16, was Daniel noch im Conti-Team gefahren ist und sich immer mehr zu einem meiner Lieblinge mausert, wenn Thomas es mich mal fahren lässt. Gleiche Situation, anderes Rad, weniger Geschwindigkeit. Als ich einigermaßen heile mit dem ION 16 durch den Kurs bin meldet sich meine Vernunft von der rechten Schulter: „Hör auf so zu rasen, merkst du nicht, dass du zu schnell bist?“. Auf der linken sitzt der Ehrgeiz und sagt: „Schnapp dir wieder das GPI und mach es nochmal. Nur fahr doch mal endlich schneller.“
Das Rad wiegt annähernd 16,5 Kilo. Aber irgendwie nur, wenn es an der Waage hängt. Sitzt man drauf verwandelt sich jedes Gramm davon in kleine „Möglichmacher“. Kurve nicht ganz getroffen? Na und? Tiefer reinlegen, dem Lenkwinkel trauen, trotzdem durchziehen. Das Vorderrad klebt am Boden, der Hinterbau folgt so gewiss, wie der Donner dem Blitz. Das GPI macht Spaß. Richtig Spaß. Aber es fordert auch. Denn es will als Gegenleistung für den Spaß vom Fahrer bewegt werden. Lässt man sich auf den Deal ein, belohnt einen das Rad mit einem dicken Grinsen im Gesicht und einem Kopfschütteln, was zum Teufel man da gerade eigentlich für eine Spur gefahren ist.
Wir kommen zum Wendepunkt des kurzen Ausfluges. Der BikeBauerBachsprung. Eigentlich nicht wildes. Trotzdem immer wieder extrem spaßig. Antritt am Hügel, treten, treten, lenken, die Sträucher an der Linkskurve ziehen einmal mehr durchs Gesicht, es geht abwärts in die erste sanfte Kante, die Beine pressen den Hinterbau in den Boden und nehmen Speed mit, vorbei an der kleinen Buche in die nächste Mulde, das Moosfeld fliegt an einem vorbei, man selber samt Bike über die Farne und in das Bachbett. Der Einschlag ins Wasser dann frei nach „Bang Boom Bang“: Schön mittig jetroffen haben se!
Daniel wollte eigentlich an einen Baggersee, aber da wird man ja immer vor dem abrupt tiefer werdenden Wasser gewarnt. Kurzerhand testet er im Feldversuch, ob der Bach schwimmbar und vielleicht zu tief ist. Irgendwie schon. Irgendwie nicht. Die Gruppe ist inzwischen doch ein wenig vom warmen Wetter mitgenommen, sitzt am oder im Bach, genießt das Wasser und bei Thomas zeigen sich wieder der entrückte Blick und die Denkerfalten auf der Stirn. Das GPI, Gegenstand seiner Gedanken, lehnt derweil seelenruhig an der Abbruchkante im Moos, wird von der Strömung umspült und sieht aus, als wäre es gerne hier und momentan sehr zufrieden mit seiner Leistung. Ich jedenfalls bin gerne hier und mehr als beeindruckt von dem „Boot“.
Ralf und Daniel wechseln sich ein wenig später mit der Kamera ab und Thomas versucht, ihnen die Geheimnisse seiner digitalen Spiegelreflexkamera zu erklären, damit auch er sich beim Bachsprung-Klassiker auf dem Prototyp-GPI verewigt. Nach vier oder fünf fehlgeschlagenen Knipsversuchen und einem sehr nassen BikeBauer-Chef halten dann nochmal Mullbinden aus dem Erste-Hilfe-Set zum trocknen der Linse her und das Bild ist im Kasten.
Natürlich ist das Rad nicht so quirlig wie ein ION 16. Nur ist der Vergleich nicht fair. Es sind beides Spitzenräder von Nicolai. Aber die G-Klasse und der AMG G63 stehen auch beide auf Daimler-Karosserien. Man muss halt wissen, was man will. Und man muss wissen, was das GPI von einem will. Halbe Sachen will es nicht können.
Spannenderweise klettert das GPI sogar unendlich braver als das 16er, das wird uns allen bei dem immer wieder erneuten berganfahren am Hügel bewusst. Ich habe oft beim Uphill den Wunsch, meinen Vorbau länger machen zu können, um weiter über das Vorderrad zu kommen. Die Geometrie vom ION GPI schiebt mich von allein dahin. Die Geometrie ist jedoch auch so eine Sache für sich. Ich bin 1,73m und fahre mein Helius ST in Rahmengröße M. Das Prototypen-GPI gibt sich mit solch profanen Größen gar nicht ab und steht frech in „longer“, also „irgendwie sowas wie XL“ vor mir. Dennoch klappt es wunderbar. Gut, „long“ wäre wohl auch okay. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass es mir andere Räder so leicht machen würden, sie zwei Nummern zu groß zu fahren. Geschweige denn, sich sofort so wohl zu fühlen. Allerdings bin ich mir gar nicht so sicher, dass es so viel zu gross war. Dafür habe ich es zu sehr genossen. Es ist anders. Das kann man sicherlich festhalten. Und es macht Spaß, wenn man ihm gibt, was es braucht.
Auf dem Rückweg taxiert Thomas derweil den Bock unter sich, baut im Geiste die Komponenten um und, natürlich, will das Bike durch die Downhills der Republik jagen. Die kombinierten 16,5kg aus Alu, Edelstahl, Kunststoff, und Ingenieurskunst flüstern fast: „Mach doch! Aber wehe, du fährst nicht schnell. Dann wird es für uns beide echt langweilig.“ Wenn man ihn und die Maschine von außen betrachtet, scheinen sich da zwei gefunden zu haben.

Norman Junker